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Mit herzlichem Gruß –
Heike
Von der Muttersprache zur Sprachmutter
In meinem ersten Jahr in Deutschland schlief ich täglich über neun Stunden, um mich von den vielen Eindrücken zu erholen, jeder normale Büroalltag war für mich eine Kette rätselhafter Szenen. Wie jede andere, die in einem Büro arbeitet, war ich umgeben von verschiedenem Schreibzeug. Insofern wirkte meine neue Umgebung auf mich zuerst nicht so fremd: Ein deutscher Bleistift unterschied sich kaum von einem japanischen. Er hieß aber nicht mehr »Enpitsu«, sondern »Bleistift«. Das Wort »Bleistift« machte mir den Eindruck, als hätte ich es jetzt mit einem neuen Gegenstand zu tun. Ich hatte ein leichtes Schamgefühl, wenn ich ihn mit dem neuen Namen bezeichnen musste.
Es war vergleichbar mit dem Gefühl, das auf mich zukam, als ich meine verheiratete Bekannte mit ihrem neuen Familiennamen ansprechen musste. Bald gewöhnte ich mich daran, mit einem Bleistift – und nicht mehr mit einem Enpitsu – zu schreiben. Bis dahin war mir nicht bewusst gewesen, dass die Beziehung zwischen mir und meinem Bleistift eine sprachliche war. Eines Tages hörte ich, wie eine Mitarbeiterin über ihren Bleistift schimpfte: »Der blöde Bleistift! Der spinnt! Der will heute nicht schreiben!« Jedes Mal, wenn sie ihn anspitzte und versuchte, mit ihm zu schreiben, brach die Bleistiftmine ab. In der japanischen Sprache kann man einen Bleistift nicht auf diese Weise personifizieren. Ein Bleistift kann weder blöd sein noch spinnen. In Japan habe ich noch nie gehört, dass ein Mensch über seinen Bleistift schimpfte, als wäre er eine Person. Das ist der deutsche Animismus, dachte ich mir. Zuerst war ich nicht sicher, ob die Frau ihre Wut scherzhaft übertrieb oder ob sie wirklich so wütend war, wie sie aussah. Denn es war für mich nicht vorstellbar, so ein starkes Gefühl für einen so kleinen Gegenstand empfinden zu können. Ich bin zum Beispiel noch nie in meinem Leben über mein Schreibzeug wütend geworden. Die Frau schien aber – soweit ich es beurteilen konnte – ihre Worte nicht als Scherz gemeint zu haben. Mit einem ernsthaften Gesicht warf sie den Bleistift in den Papierkorb und nahm einen neuen in die Hand. Der Bleistift, der in ihrem Papierkorb lag, kam mir plötzlich merkwürdig lebendig vor. Das war die deutsche Sprache, die der für mich fremden Beziehung zwischen diesem Bleistift und der Frau zugrunde lag. Der Bleistift hatte in dieser Sprache die Möglichkeit, der Frau Widerstand zu leisten. Die Frau konnte ihrerseits über ihn schimpfen, um ihn wieder in ihre Macht zu bekommen. Ihre Macht bestand darin, dass sie über den Bleistift reden konnte, während der Bleistift stumm war.
Vielleicht schimpfte sie über ihn, um sich dieses Machtverhältnisses zu vergewissern. Denn die Frau war sehr verunsichert in dem Moment, als sie nicht weiterschreiben konnte. Unabhängig davon, ob es an der ständig brechenden Bleistiftmine liegt oder an der mangelnden Kreativität, wird jeder Mensch verzweifelt, wenn er plötzlich nicht weiterschreiben kann. Er muss dann seine Position als Schreibender wiederherstellen, indem er über sein stummes Schreibzeug schimpft. Leider handelt es sich hier nicht um einen Animismus.
Trotzdem kam mir der Bleistift lebendig vor, als die Frau über ihn schimpfte. Außerdem kam er mir männlich vor, weil er der Bleistift hieß. In der japanischen Sprache sind alle Wörter geschlechtslos. Die Substantive lassen sich zwar – wie das bei den Zahlwörtern sichtbar wird – in verschiedene Gruppen aufteilen, aber diese Gruppen haben nie das Kriterium des Männlichen oder des Weiblichen: Es gibt zum Beispiel eine Gruppe der flachen Gegenstände oder der länglichen oder der runden. Häuser, Schiffe und Bücher bilden jeweils eigene Gruppen. Es gibt natürlich auch die Gruppe der Menschen: Männer und Frauen gehören zusammen dahin. Grammatikalisch gesehen ist im Japanischen nicht einmal ein Mann männlich.
Es machte mir viel Mühe, das grammatische Geschlecht eines deutschen Wortes zu lernen. Ich vergaß es sofort, als hätte es gar keine Beziehung zu dem Wort. Einem Muttersprachlichen komme das grammatische Geschlecht wie ein natürlicher Teil eines Wortes vor, stand in einem Sprachlehrbuch. Ich versuchte immer wieder herauszufinden, wie man sich diese Empfindung erwerben könnte.
Es gab einen Vergleich, an dem ich mich damals orientierte: Wenn ich zum Beispiel eine Menschengestalt sehe, nehme ich als Erstes wahr, ob es eine Frau oder ein Mann ist. Auch bei dem Gedanken, diese Unterscheidung sei für mich vollkommen bedeutungslos, könnte ich keinen Menschen wahrnehmen, ohne sein Geschlecht wenigstens zu beachten. Ich sollte wahrscheinlich die Gegenstände genauso wahrnehmen – dachte ich mir damals –‚ sonst könnte ich mir niemals ihr grammatisches Geschlecht merken.
Wenn ich zum Beispiel einen Füller sah, versuchte ich, ihn wirklich als ein männliches Wesen zu spüren und zwar nicht im Kopf, sondern mit meinem Gefühl. Ich nahm ihn in die Hand, starrte ihn lange an, während ich leise vor mich hin wiederholte: männlich, männlich, männlich. Der Zauberspruch brachte mir langsam einen neuen Blick. Das kleine Reich auf dem Schreibtisch wurde nach und nach sexualisiert: der Bleistift, der Kugelschreiber, der Füller – die männlichen Gestalten lagen männlich da und standen wieder männlich auf, wenn ich sie in die Hand nahm. Es gab auch ein weibliches Wesen auf dem Schreibtisch: eine Schreibmaschine. Sie hatte einen großen, breiten tätowierten Körper, auf dem alle Buchstaben des Alphabets zu sehen waren. Wenn ich mich vor sie hinsetzte, hatte ich das Gefühl, dass sie mir eine Sprache anbot. Ihr Angebot änderte zwar nichts an der Tatsache, dass Deutsch nicht meine Muttersprache ist, aber dafür bekam ich eine neue Sprachmutter. Diese weibliche Maschine, die mir eine Sprache schenkte, nannte ich Sprachmutter. Ich konnte zwar nur die Zeichen schreiben, die sie bereits in und auf sich trug, das hieß, das Schreiben bedeutete für mich nichts weiter, als sie zu wiederholen, aber dadurch konnte ich von der neuen Sprache adoptiert werden. Es waren natürlich nur Geschäftsbriefe und keine Gedichte, die ich im Büro schrieb. Dennoch spürte ich oft große Freude beim Tippen. Wenn ich ein Zeichen tippte, stand es sofort auf dem Papier, schwarz auf weiß und geheimnisvoll zugleich. Wenn man eine neue Sprachmutter hat, kann man eine zweite Kindheit erleben. In der Kindheit nimmt man die Sprache wörtlich wahr. Dadurch gewinnt jedes Wort sein eigenes Leben, das sich von seiner Bedeutung innerhalb eines Satzes unabhängig macht. Es gibt sogar Wörter, die so lebendig sind, dass sie wie mythische Figuren ihre eigenen Lebensgeschichten entwickeln können.
Es gab damals zwei Figuren in der deutschen Sprache, die mir stark auffielen. Sie standen oft mit verdeckten Gesichtern vor meinen Augen. Ich wusste nicht genau, was oder wer sie waren, und es war nicht möglich, jemanden danach zu fragen; denn meine deutschen Mitarbeiterinnen schienen sie nicht sehen zu können. Die eine Figur hieß »Gott« und die andere »Es«. Sie zeigten sich immer wieder in verschiedenen Sätzen.
Gott kam oft aus dem Mund einer Frau, wenn ein Gefühl ohne Kommentar herauskam: »Oh, mein Gott!«, »Ach du lieber Gott!«, »Gott sei Dank!«, »Um Gottes willen!« Jedes Mal, wenn ich einen von diesen Ausdrücken hörte, spürte ich eine große Macht, die mich beherrschen wollte. Um ihren Einfluss zu vermeiden, versuchte ich immer, dieses Wort zu ignorieren. Noch heute kann ich keinen Ausdruck verwenden, in dem das Wort »Gott« vorkommt.
Die zweite Figur, die mir damals stark auffiel, war »Es«. Man sagte: »Es regnet«, »Es geht mir nicht gut«, »Es ist kalt«. Im Lehrbuch stand, dass dieses »es« gar nichts bedeute. Dieses Wort fülle nur die grammatische Lücke. Ohne »es« würde nämlich das Subjekt des Satzes fehlen, und das ginge auf keinen Fall, denn das Subjekt müsse sein. Ich sah es aber nicht ein, dass ein Satz ein Subjekt haben musste.
Außerdem glaubte ich nicht, dass das Wort »es« keine Bedeutung hatte. In dem Moment, in dem man sagt, dass es regnet, entsteht ein Es, das das Wasser vom Himmel gießt. Wenn es einem gut geht, gibt es ein Es, das dazu beigetragen hat. Dennoch schenkte ihm keine besondere Aufmerksamkeit. Es besaß nicht einmal einen Eigennamen. Aber es arbeitete immer fleißig und wirksam in vielen Bereichen und lebte bescheiden in einer grammatischen Lücke.
Was mir im Reich des Schreibzeugs besonders gut gefiel, war der Heftklammerentferner. Sein wunderbarer Name verkörperte meine Sehnsucht nach einer fremden Sprache. Dieser kleine Gegenstand, der an einen Schlangenkopf mit vier Fangzähnen erinnerte, war Analphabet, obwohl er zum Schreibzeug gehörte: Im Unterschied zu dem Kugelschreiber oder zu der Schreibmaschine konnte er keinen einzigen Buchstaben schreiben. Er konnte nur Heftklammern entfernen. Aber ich hatte eine Vorliebe für ihn, weil es wie ein Zauber aussah, wenn er die zusammengehefteten Papiere auseinandernahm.
In der Muttersprache sind die Worte den Menschen angeheftet, so dass man selten spielerische Freude an der Sprache empfinden kann. Dort klammern sich die Gedanken so fest an die Worte, dass weder die ersteren noch die letzteren frei fliegen können. In einer Fremdsprache hat man aber so etwas wie einen Heftklammerentferner: Er entfernt alles, was sich aneinanderheftet und sich festklammert.
Tawada, Yoko. Talisman: Literarische Essays (German Edition) . Konkursbuch Verlag. Kindle-Version.